Kategorie: Augenzeugen berichten

Krieg, Flucht und Folgen

 

„Detzki-dom“ – Kinder-haus\lager IV, Juditten
im Nachkriegs-Königsberg 1946-1948

1995 verfasste Ursula Lennarz, verw. Schiemann, „Tante Ursel“ eine authentische Niederschrift über das Leben bzw. die Zustände in diesem Kinderlager IV, in dem sie als Betreuerin von Spätsommer 1946 bis November 1947 aufopfernd und liebevoll wirkte -Zeitdokument-:

                                     (Abschrift der Niederschrift)

Je mehr man jetzt in Presse oder Fernsehen oder auch von Besuchern Berichte aus Ostpreußen liest oder hört, umso stärker wird die Sehnsucht nach der Heimat. Erinnerungen werden wach, die zeitweise zwar verschüttet, im Grunde aber immer gegenwärtig waren. …Heute möchte ich sozusagen als Zeitdokument über das „Kinderhaus IV“ in Königsberg-Juditten berichten, von den Russen errichtet und „Detzki-Dom“, also „Kinderhaus“ genannt. Es bestand seit Herbst 1946 und lag in der Waldstraße im Hause Drawert, in einem Zweifamilienhaus. Juditten, ein Vorort von Königsberg, lag 7 km von der Stadtmitte entfernt, einst ein begehrtes Ausflugsziel, das gut mit der Straßenbahn zu erreichen war. Das Theodor-Krohne-Wäldchen lud zur Erholung und Spaziergängen ein. Im Café Korinth oder Karnowski konnte man seinen Kaffee ausbrühen lassen. Man gab ein Tütchen gemahlenen Kaffee ab, der Wirt berechnete pro Tasse Wasser 10 Pfg. und stellte das Geschirr – ein billiges Vergnügen. Im Wald konnte man sich auf einer bunt verzierten Waage, auf der ein Korbsessel stand, wiegen lassen, auch dafür zahlte man 10 Pfg. und erhielt ein Wiegekärtchen, zur späteren Kontrolle. Nach dem Krieg sah dann alles ganz anders aus.


Das Kinderhaus, das 117 Kindern eine ganz primitive Bleibe bot, wurde im Spätsommer 1946 eingerichtet. Bevor ich hier als Betreuerin anfangen durfte, mußte ich ganz alleine die ganzen Kellerräume vom Schutt, Unrat und Feuchtigkeit säubern. Es war eine anstrengende, ekelerregende Arbeit, die lange Zeit in Anspruch nahm. Ausnahmslos alle Kinder hatten die Mutter verloren, von den Vätern wußte auch kein Kind etwas. Alle waren verängstigt mit großen, traurigen Augen. Die Räume, die als Schlaf- und Eßraum dienten, hatten nur Tisch und Bänke. In den Schlafräumen waren doppelstöckige Betten. Als Unterlage und als Decke diente dickes Papier. Kein Wunder, dass die Flöhe zu hunderten herum hüpften, dazu jede Menge Läuse und Krätze. Wenn ich Nachtwache hatte, stellte ich mir ein Glas Wasser auf die Erde und im Handumdrehen konnte ich von meinen Knöcheln zig Flöhe abnehmen. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, keine Toilette und kein Wasser. Die Nachtwache mußte zwischendurch den Kloeimer im Garten entleeren, damit er nicht überlief. Das Wasser wurde ganz am Anfang mit Pferdewagen von den „Hufen“, also ein paar Kilometer entfernt, geholt. Am Badetag (ganz selten), kam das einzige Kind, das keine Krätze hatte, als erste in das noch saubere Wasser. Später wurde das Wasser aus einem Brunnen der näheren Umgebung geholt, und zwar in Eimern, die von zwei jungen Männern, Horst und Fredy, ins Haus getragen wurden. Auch das Holzhacken gehörte zu ihrer täglichen Arbeit.
In der Kinderbetreuung teilten sich drei „Erzieherinnen“ die Arbeit: Frau Ida Schlobinski „Tante Schlochen“ genannt, sie war eine energische, aber sehr liebe Frau, sie war die Älteste von uns. Dann kamen Renate Schmielewski, „Tante Renate“ und ich, „Tante Ursel“.
Als Köchinnen waren Frau Lutkat und Frau Schmielewski (Mutter von Tante Renate) eingesetzt. Später kam eine russische Köchin „Tassia“ hinzu, die mit Argusaugen darüber wachte, daß kein Teller Suppe für die Erzieherinnen eingeschöpft wurde.
Ich erinnere mich an weitere Kollegen, Frau Kaminski, Frau Katzmatzeck und nicht vergessen Frau Martha von Kuenheim, die es noch schwerer hatte als wir anderen, weil sie zwei kleine Kinder, Reinhard und Irmgard, zu Hause zu versorgen hatte. Als Krankenschwester half „Schwester Dorle“, Dora Salz/Köhler, die Krätze der Kinder mit Wegerichblättern zu heilen. Im Laufe der Zeit betreute auch eine russische Ärztin die Kinder, aber auch ihr waren die Hände gebunden, weil es ja nichts gab. Eine Dolmetscherin gab es später auch, Frau Wolski, „Tante Wolski“ mit ihrer Nichte Gerda. Kurzfristig waren auch Uschi Zacharias und Frau Adebahr im Hause tätig.
Anstrengende Arbeit hatten die Waschfrauen, die am Anfang, als die Jungen noch nicht da waren, das Wasser auf die erste Etage trugen und dann mit dem Rubbelbrett gewaschen haben, für 117 Kinder.
-- Ein paar größere Kinder ginge kurze Zeit, einige Kilometer entfernt, Luisenallee, in die Schule. Die kleineren Kinder sollten von Frau Döblitz ab und an Unterricht in einem Raum der ehem. Volksschule Juditten erhalten. Da kein Lehrmaterial vorhanden, es eisig kalt war und der Hunger groß, wurde die Zeit mit Singen ausgefüllt. Die Kinder mußten auch arbeiten, im Haus und auf dem Feld. …(Reinigungs- und Hilfsarbeiten). Lastwagen holten Kinder auch zum Arbeitseinsatz auf Feldern und Gärten der Umgebung ab. --
Auch wir Betreuerinnen wurden zu allen möglichen Arbeiten eingestellt. Die schwerste Arbeit war, große Baumstämme aus einem Schiff entladen, über schmale, schwankende Planken.
Das größte Problem war die Ernährung, um die sich alles drehte. Satt wurden die Kinder nie.
Morgens gab es eine Scheibe trockenes Brot und ab und zu einen Salzheringskopf und Tee, der aus einem Aluminiumteller getrunken wurde. Dieser Teller diente als Universal-Geschirr. Auch gab es später zum Frühstuck schon mal einen Bonbon.
Als Mittagessen bekamen die Kinder eine dünne Suppe oder „Kascha“, einen Brei aus Grütze, Hirse, Kartoffeln oder Erbsen. Da die großen Kochtöpfe beim Kochen auf dem Topfboden immer etwas ansetzten, wurde dieses als besondere Vergünstigung abwechselnd an die Kinder verteilt.
Zum Abend wieder eine Scheibe trockenes Brot (manchmal mit einem Heringskopf) und Tee.
Doch so unzureichend diese Ernährung auch war, es war immerhin etwas, denn als die Kinder auf sich alleine gestellt waren, lebten sie im Sommer nur von Löwenzahn, Sauerampfer, Gras oder Lindenblättern. In der ganzen Umgebung gab es keinen Baum, der an den unteren Ästen Blätter hatte.
Spielzeug für Kinder gab es nicht. Die Hauptbeschäftigung war Stricken. Auf der Straße gefundene Fahrradspeichen wurden zu Stricknadeln umfunktioniert. Ab und zu fand man alte Pullover, die „aufgerebbelt“ wurden. Da ich früher im Kindergarten tätig war, konnte ich wenigstens mit den Kindern singen und das taten sie gern und oft.
Bei ihrer Ankunft wurde den Kindern die Haare restlos abgeschnitten. Bei den größeren Mädchen gab es natürlich Tränen. Ich erinnerte mich an ein Mädchen, das relativ spät zu uns kam. …die Schere „bockte“, denn das Haar war so schmutzig und verklebt, die Läuse hatten sich in die Kopfhaut eingefressen. Ich konnte vorerst nur abkratzen und später allmählich säubern. Was waren das doch für arme, arme Wesen: anschmiegsam, liebebedürftige ganz brave, verstörte Kinder, die so viel Schweres mitgemacht haben.
Kurz vor dem Abtransport ins „Reich“ wurden die Kinder eingekleidet, was den Neid der Zivilrussen erregte. …..Einen Tag vor dem Abtransport wurde dies rückgängig gemacht und die Ausweisung erfolgt in den alten Sachen. …..
In den Jahren 1946 bis Ende 1947, in der das Haus existierte, hatten wir drei russische Direktoren. An den ersten erinnere ich mich kaum, doch an den zweiten umso mehr. Er war Jude und hatte alle seine Angehörigen verloren. Er war der beste Direktor, er setzte sich für die Kinder ein. In seiner Zeit gab es zum Frühstuck schon mal ein Löffelchen Zucker. Er selbst besaß nur ein Oberhemd trocken war. … Der Direktor wollte, als genügend Rubel zusammen waren, ein Auto für das Haus kaufen. Von diesem Vorhaben kam er nicht mehr zurück. Er wurde ermordet. Das Geld war gestohlen. Wir alle waren sehr traurig. Der dritte Direktor war ein unnahbarer, nie lachender Mann. ……
In der schweren Zeit hielt uns alle die Hoffnung aufrecht, bald nach Deutschland zu dürfen. Im Oktober 1947 war es endlich soweit. Zwar bedeutete das den Verlust unserer Heimat, aber damals war es unser sehnlichster Wunsch. Leider bekamen die Kinder als Begleitung nur „Schwester Dorle“ und die Dolmetscherin „Tante Wolski“ mit. Wir anderen mußten traurig und ja auch ohne Arbeit und Verdienst zurückbleiben. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis auch wir, am 26 Oktober 1947 vom russischen Wirtschaftsleiter aus dem Bett geholt und auf einen Lastwagen verfrachtet wurden, um zum Bahnhof zu fahren. Es war noch dunkel. Wir, d.h. Frau Schlobinski und ich blieben zusammen und bekamen verwaiste Kinder aus anderen Lagern zugeteilt. Die Viehwagen mußten wir zuerst säubern. Außer einem Ofen war nichts drin. Die 56 Kinder saßen verängstigt auf dem Fußboden. Vorher wurden uns die noch vorhandenen Rubel abgenommen. …..
Im Nebenwaggon war Frau von Kuenheim mi Kindern und auch Fredy, der auf der Fahrt Schwerstarbeit verrichtet hat. Man muß sich einmal vorstellen, was es heißt, Tag und Nacht eine relativ kleine Schüssel, die für 56 Kinder und zwei Erwachsene als Toilette diente, ständig durch einen schmalen Schlitz, der sich oben an der Waggonwand befand, zu leeren. Wir, im Nebenwaggon, hatten für diesen Zweck wenigstens einen Eimer. Eine Nacht standen wir noch auf dem Königsberger Bahnhof. Unterwegs wurden die Türen der Waggons beim Halten geöffnet und wir konnten, wenn es möglich war, Wasser zum Trinken aus den Gräben holen. Auch wurde der Zug in der Nacht einmal überfallen.
Wir fuhren 6 Tage und 5 Nächte über Küstrin bis Pasewalk. Als wir den Bahnhof erreichen, hörten wir schrille Lautsprechermusik zur Begrüßung. Unsere Hoffnung, hier ein warmes Getränk zu erhalten, erwies sich als trügerisch. Nur die Kinder erhielten etwas Warmes zu trinken. Wir fuhren weiter bis Gültz in Pommern. Hier wurden wir erwartet. Nette Schwestern empfingen uns und wir bekamen Essen und Trinken, ein Bett und als Krönung eine Waschgelegenheit. ….

niedergeschrieben von Frau Ursula Lennarz

abgeschrieben von Frau Helga van de Loo

Anmerkungen von Frau Helga van de Loo:

Dies ist eine leicht gekürzte Abschrift, da das Manuskript zum Teil verblasst, und schlecht lesbar ist.

In diesem Kinderhaus/-lager „überlebten“ u.a.:
Helmut Dommasch, Erfurt,
Helga van de Loo, geb. Koslowski, Bonn
und eine längere Zeit auch die Geschwister Irmgardt und Gisela Brandstätter, Leichlingen